04. Juli
Mündig werden in digitalen Medienwelten
In der Veranstaltungsreihe „Birklehof im Gespräch“ diskutierte Altschülerin und Medienwissenschaftlerin Prof. Dr. Tong-Jin Smith am 4. Juli mit unseren Schülerinnen und Schülern über Medienkompetenz und Demokratiebildung.
Zurück an den Birklehof
1981 hat der Blick auf den Windeck Tong-Jin Smith spontan überzeugt, nach mehreren besichtigten Internaten sich für den Birklehof zu entscheiden. Neun Jahre bis zu ihrem Abitur blieb sie bei uns und hat in dieser Zeit – neben dem Wintersport auf dem Windeck – fast jede angebotene Sportart intensiv betrieben.
Doch Sport war gar nicht das Thema unserer fünften Veranstaltung der digitalen Reihe „Birklehof im Gespräch“ mit Schulleiter Rüdiger Hoff, Julia (Q1) und Paul (Abiturjahrgang 2024). Als Politikwissenschaftlerin und Professorin für Journalismus an der Media University of Applied Sciences Berlin diskutierte Tong-Jin Smith mit mehr als 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die Frage, wie wir unsere Medienmündigkeit und demokratische Resilienz steigern können.
Karriere in Journalismus und Wissenschaft
Nach dem Abitur im Jahr 1990 studiert Tong-Jin Smith an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg Politikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte und Anglistik und promoviert 2002 zu „Demokratie und Demokratisierung in Ostasien“. Seit 1992 ist sie als Journalistin tätig, u.a. bei Welt am Sonntag, Tagesspiegel, ZDF und dem CSR-Magazin. 2014 wird sie Lehrbeauftragte an der Dekra Hochschule Medien, 2016 Lehrkraft am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin und gründet dort 2019 zusammen mit Carola Richter das Center for Media and Information Literacy (CeMIL). Im gleichen Jahr wird sie an der HMKW Berlin (heute Media University of Applied Sciences Berlin) als Professorin für Journalismus berufen. Ihr Hauptinteresse in Lehre und Forschung gilt der digitalen Öffentlichkeit, Nachrichten- und Informationskompetenz(bildung) sowie den Transformationsprozessen des Journalismus in der Netzwerkgesellschaft und Aufmerksamkeitsökonomie. Journalistisch liegt ihr Fokus auf Nachhaltigkeit, Stadtentwicklung und Bildung.
Nach Habermas: Radikaler Medienwandel
Als Einstieg in das Thema „Medienmündigkeit und Demokratie“ zeigte Tong-Jin Smith auf, dass die normativen Bedingungen, die Jürgen Habermas einst für die Öffentlichkeit formuliert hat, in der heutigen digitalen Öffentlichkeit nicht mehr funktionieren. So sollte nach Habermas jeder Mensch an der Kommunikation teilnehmen und dabei gleiches Gewicht haben, jedes Thema sollte behandelt und nur die Kraft des besseren Arguments im herrschaftsfreien Diskurs zählen. Doch der radikale Medienwandel hat zu einer ganz anderen Realität geführt: Wir erhalten durch Algorithmen vorselektierte Nachrichten, wir sind von der herrschenden Informationsflut überfordert und zeitgleich nicht ausreichend informiert, wir haben das Vertrauen in Nachrichten verloren und müssen im Ergebnis selbständig unsere Informationskompetenz entwickeln, um an Demokratie teilhaben zu können. So wird die Medienmündigkeit jedes Einzelnen zu einem der kritischen Faktoren für Demokratie. Und die Vermittlung von Nachrichten- und Informationskompetenzen wiederum zu den Kernaufgaben schulischer Bildung.
Medienkompetenz ist Demokratiebildung
Doch wie steht es um die Frage der Demokratie- & Medienbildung am Birklehof? Julia, Paul und Rüdiger Hoff sind sich einig: Am Birklehof wird Demokratie gelebt, nicht nur gelehrt – die Schülerinnen und Schüler sind auf vielen Ebenen in Entscheidungsprozesse eingebunden. Das Thema Medienbildung ist zwar ein Baustein der Pädagogik am Birklehof, sollte jedoch weiter ausgebaut werden, insbesondere in Bezug auf die praktische Medienkompetenz. Seine eigene Meinung bilden und diese äußern zu können, wird auch aus Sicht von Tong-Jin Smith immer wichtiger und bleibt auch weiterhin eine Querschnittsaufgabe. Mit dem Ziel, die Medien- und Informationskompetenz von Jugendlichen zu stärken, haben Tong-Jin Smith und ihr Forschungsteam am Birklehof im Juli das Projekt gestartet, zusammen mit der 9. Klasse ein Kerncurriculum zur Medienbildung zu entwickeln.
Die zweite Hälfte der Veranstaltung war von einer Vielzahl an Fragen an Tong-Jin Smith und einer sehr regen Diskussion geprägt. Wie funktionieren die Nachrichtenagenturen? Was können die Journalisten ändern, um die Nachrichten vor allem für junge Menschen attraktiv zu machen? Wer trägt die Hauptverantwortung für die Medienbildung? Was könnten die Journalisten von Influencern lernen? Mit welchen Gegenmitteln könnte man der Nutzung der Massenmedien durch weniger demokratische Interessensgruppen oder Parteien begegnen? Wie agiert man in einer Welt, in der eine Lüge so oft wiederholt wird, dass sie zu einer Wahrheit mutiert?
Medienbildung als gemeinsame Verantwortung
Tong-Jin Smith hat keine der Fragen offengelassen und uns fundierte, ausführliche und offene Einschätzung zu allen Themenbereichen gegeben. Medienbildung sei eine gemeinsame Verantwortung der Gesellschaft, der Journalisten und der Schulen. So forderte sie uns alle auf, mit Menschen ins Gespräch zu kommen und die digital aufgenommenen Informationen mit unserer eigenen Realität abzugleichen, uns als Teil der digitalen Öffentlichkeit wahrzunehmen und unsere Wirkung zu verstehen. An die Journalisten und somit sich selbst stellte Tong-Jin Smith die Forderung auf, ihre Rolle neu zu definieren und nicht nur mehr Informationen bzw. Inhalte in den Tagesjournalismus zu bringen, sondern durch konstruktive und lösungsorientierte Berichterstattung Teil der Gesamtlösung zu werden. An die Schulen stellte sie die Erwartung, die Medienbildung viel früher und umfangreicher in das Kerncurriculum aufzunehmen. Einzig bei der Frage von Rüdiger Hoff, wie lange sie einmal maximal offline gewesen sei, musste Tong-Jin Smith länger nachdenken.
Text: Nino Virubova
Fotos: Wolfgang Finke